Um sich in dem gegenwärtigen Chaos kirchlichen Lebens einigermaßen zurechtzufinden, muß man sich auf die sichere Lehre der Kirche stützen, also auf jene Lehre, die in den Akten des kirchlichen Lehramts und in Abhängigkeit davon von den großen Theologen niedergeschrieben worden ist. Das ist zwar mit einer nicht geringen Mühe verbunden, wer aber diese Mühe scheut, wird sich letztlich immer mit vorschnellen und zu kurz greifenden Antworten zufrieden geben. Und sobald jemand dies nicht mehr wahrnimmt, verfängt er sich in seiner selbstverfertigten Lehre und wird zum Ideologen. Wir haben uns in einem ersten Beitrag mit diesem Thema beschäftigt. In einem zweiten Beitrag vergegenwärtigten wir uns die Lehre der Kirche über die Kirche, um diese aufzufrischen und dadurch urteilsfähig zu werden, ob denn die Konzilskirche die katholische Kirche sein könne.
Über diese Frage – Ist die Konzilskirche die katholische Kirche? – gibt es in der sog. Bewegung der Tradition durchaus keine einheitliche Meinung, was doch eigentlich angesichts der nachkonziliaren Katastrophe verwunderlich ist. Doch mischen sich gerade bei dieser Frage nach dem Wesen der Konzilskirche viele irrationale Beweggründe in das Urteil des Einzelnen. Meist sind es ideologische Vorentscheidungen, die den Ausschlag geben, und nicht theologische Erwägungen über das, was die Kirche immer sein muß, wenn sie Kirche Jesu Christi sein soll.
Weil diese Frage in der heutigen Situation des Katholiken so entscheidend ist, wollen wir anhand eines Beispiels zeigen, was geschieht, sobald man die Antwort verfehlt. Die Priesterbruderschaft St. Pius X. (FSSPX) versucht nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit allen Mitteln, sich dem nachkonziliaren, postmodernen Rom anzuschließen, um ihren kanonischen Mangel loszuwerden. Offensichtlich leiden ihre Oberen unter dem Kainsmal des Ausgestoßenseins so sehr, daß sie sogar bereit sind, den Bestand ihrer eigenen Gemeinschaft zu riskieren, um zur Wiedervereinigung mit der vom modernistischen Geist geprägten römischen Kirche zu gelangen. Den Oberen dieser Gemeinschaft erscheint die Rückkehr in die Konzilskirche offensichtlich inzwischen wie die Rettung aus der eigenen Krise. Dieses an sich recht merkwürdige Verhalten hat eine viel tieferreichende Wurzel, als gemeinhin wahrgenommen wird. Dieser geistigen Wurzel müssen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden, ehe wir dann – in einem nächsten Beitrag – über das Kirchenbild dieser Gemeinschaft eingehender nachdenken können.
„Die goldene Mitte“ ODER „Weder Fisch noch Fleisch?“
Wir sind die Mitte!
Das Selbstverständnis der FSSPX ergibt sich – das ist wohl von kaum jemandem thematisiert worden – aus der kirchenpolitischen Einordnung, welche diese Gemeinschaft in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgenommen hat. Die FSSPX positioniert sich selbst in dieser Frühphase des nachkonziliaren Widerstandes zwischen dem Modernismus und dem sog. Sedisvakantismus. Ihren Gläubigen gegenüber gibt sie diese Position als die goldene Mitte aus. Stolz verkündet man allenthalben, daß man weder Modernist noch Sedisvakantist sei! Nun wirft diese Selbstdefinition der Gemeinschaft eine ganze Reihe von Fragen auf, die leider von den Verantwortlichen nicht einmal wahrgenommen werden.
Ein erstes merkwürdiges Faktum ist: durch diese Selbstdefinition als goldene Mitte zwischen Modernismus und Sedisvakantismus stellt die FSSPX den Modernismus und den sog. Sedisvakantismus als gleichgeartete und gleicherweise zu meidende Extreme dar. Nun ist aber der Modernismus bekanntermaßen eine von der Kirche verurteilte Irrlehre (bzw. ein ganzes System von Irrlehren), wohingegen die sog. Sedisvakanz (also eine Zeit, in der der Stuhl Petri nicht besetzt ist) zum einen Teil ganz einfach eine Tatsache und zum anderen Teil eine von der Kirche sicher gelehrte Lehre ist. Die Sedisvakanz ist eine Tatsache, wenn ein Papst gestorben ist, und sie ist eine ganz sichere, über Jahrhunderte sogar ins Kirchenrecht aufgenommene Lehre, die der hl. Robert Bellarmin folgendermaßen prägnant zusammenfaßt: „Ein notorisch häretischer Papst hört automatisch auf, Papst und Oberhaupt der Kirche zu sein, so wie er automatisch aufhört, Christ und Mitglied des Leibes der Kirche zu sein. Aus diesen Gründen kann er von der Kirche verurteilt und bestraft werden. Fügen wir hinzu, daß die Lage der Kirche sehr unglücklich wäre, würde sie gezwungen, als Hirt einen Wolf anzuerkennen, der sich offen gegen sie wendet.“
Die FSSPX kann nur deswegen ihren Gläubigen die selbstgewählte Position als Mitte zwischen gleichermaßen zu meidenden Extreme ausgeben, weil die Gläubigen zwar den Modernismus noch einigermaßen (wenn auch immer weniger) als Irrlehre durchschauen, wohingegen sie über die Lehre der Kirche bezüglich einer Sedisvakanz bei Häresie eines Papstes meistens gar nichts wissen, ja von den Verantwortlichen der FSSPX vollkommen desinformiert und systematisch in die Irre geführt werden. So verwirrt etwa der bis zum 15. August dieses Jahres noch mit kanonischem Mangel „amtierende“ Distriktobere von Deutschland seit geraumer Zeit die Gläubigen immer wieder durch ein Zitat aus dem Ersten Vatikanischen Konzil, das er beharrlich und offensichtlich unbelehrbar fehlinterpretiert.
Die FSSPX konstruiert also eine Mitte nicht zwischen zwei wirklich zu meidenden Extremen, sondern zwischen einem Irrtum und einer Wahrheit, wobei die Wahrheit als Irrtum ausgegeben wird – was selbstverständlich nicht folgenlos bleiben kann, denn wie viele Wahrheiten muß man wohl verdrehen, bis eine Wahrheit als Irrtum erscheint?
Als weiteres Kuriosum kommt noch hinzu, daß das Feindbild der FSSPX sich die letzten 15 Jahre erstaunlich verschoben, verstärkt und fixiert hat. Während die Oberen inzwischen von „unseren neuen Freunden in Rom“ sprechen, also sich ihrer neuen Freunde unter den Postmodernisten rühmen (für die sie schon mehrere eigene Priester geopfert, d.h. aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen haben), sind die sog. Sedisvakantisten zu Todfeinden erklärt worden. Man muß das einmal in aller Ruhe überdenken: Die von der vorkonziliaren Kirche verurteilten und exkommunizierten Modernisten/Postmodernisten sind die neuen Freunde der FSSPX, während die rechtgläubigen Sedisvakantisten ihre Todfeinde sind. Die Gemeinschaft, die die Kirche, die Tradition, die Hl. Messe retten möchte, sieht in dem Zusammenschluß mit den Modernisten die Rettung aus ihrer kanonischen Irregularität, während diejenigen, die sie vor dieser Torheit bewahren wollen, ihre Todfeinde sind. Sie erinnern sich vielleicht: Eine Ideologie lebt vom Feindbild und nicht von der Wahrheit und darum macht die Ideologie auch blind.
Kommen wir nun zum zweiten Punkt unserer Erwägungen. Die Selbstdefinition der FSSPX als Mitte zwischen Modernismus und Sedisvakantismus ist eine rein politische Einordnung. Was ist in der Politik die Mitte? In Deutschland beherrschten Jahrzehnte hindurch drei Parteien die Politik: CDU/CSU, SPD und F.D.P. Und so wie die F.D.P. ihre Koalitionspartner jeweils gewechselt hat, wenn es ihr zum eigenen Vorteil schien, so ändert die FSSPX ihre Position je nach Belieben, d.h. je nach vermeintlichem eigenen Vorteil. Daß man jedoch in diesem politischen Spiel notwendiger Weise ganz eigenen Gesetzen unterworfen wird, das stört die Oberen der FSSPX offensichtlich in keiner Weise mehr, weil sie selbst nämlich nur noch politisch denken und urteilen. Darum war es nicht zufällig, daß der erste Assistent des Generaloberen der FSSPX in seinem Vortrag in Hattersheim am 1. Mai 2012 für ein Abkommen mit Rom auch ohne lehrmäßige Einigung plädiert hat. Es käme nämlich einem Abgleiten in den Sedisvakantismus gleich (da haben Sie wieder das Feindbild), sollte man sich dem Wunsch des Heiligen Vaters nach Einigung noch verschließen. Vielleicht ist Ihnen das auch schon aufgefallen, man muß viele Aussagen der Verantwortlichen der FSSPX ergänzen, wenn man ihren eigentlichen Sinn verstehen will. Der erste Assistent des Generaloberen der FSSPX sagt – genau genommen – das: Den Wunsch des „Heiligen Vaters“ nach Einigung auf der Grundlage des „Glaubens“ des Konzils und der Theologie der neuen Sakramente kann man nicht zurückweisen, weil das einem Abgleiten in den Sedisvakantismus gleichkäme, weshalb man auch die Wahrheitsfrage ausklammern kann, ja muß. Das ist – genau genommen – das gedankliche Fundament der goldenen Mitte der FSSPX! Aber wo ist denn da eigentlich noch die Mitte?!
Die FSSPX ist offensichtlich einer schlimmen Verwechslung zum Opfer gefallen. Einer ihrer Priester hat einmal naiv und unreflektiert, aber allen Ernstes behauptet: Die Wahrheit steht immer in der Mitte. Genauso wie dieser Priester die Wahrheitserkenntnis mit der Tugendlehre verwechselt hat (die Tugend seht gewöhnlich immer in der Mitte, bis auf ganz wenige Ausnahmen), geht es nun der ganzen Gemeinschaft: Ihre Wahrheit steht plötzlich immer in der Mitte, wobei diese Mitte, wie es in der Politik üblich ist, nach links (zu den Modernisten/Postmodernisten) hin weit offen ist , während sie nach rechts (Sedisvakantisten) keinerlei Toleranz kennt. Letztlich ist der Liberale weder Fisch noch Fleisch mit ständiger Tendenz nach links.
Eines sei noch ergänzt: Wer sich auf die Ebene der Politik begibt, wer also die Wahrheit dem Machbaren unterordnet, der serviert seinen Gläubigen letztlich nur noch Tagesmeinungen. Ein Beispiel dafür ist das Schreiben der drei Weihbischöfe der FSSPX zu ihrem 25jährigen Bischofsjubiläum. Wie Sie sicher wissen, hat sich gegenüber dem letzten Jahr die kirchenpolitische Situation der Piusbrüder (so die neue von der Gemeinschaft selbst übernommene Sprachregelung der Presse) durch das Scheitern der Wiederangliederung an das postmoderne Rom wieder einmal geändert. Da ändert sich auch – schwuppdiwupp – sofort wieder die Sprechweise. Die drei Weihbischöfe haben zu ihrem 25. Bischofsjubiläum ein Schreiben verfaßt, wo sie auf einmal wieder in gespielter Einheit recht starke Töne von sich geben, ganz im Gegensatz zu dem, was sie noch vor ein paar Monaten gesagt haben. Rechnen sie inzwischen genauso wie die Politiker mit der Vergeßlichkeit ihrer Gefolgsleute, die heute nicht mehr wissen, was man ihnen gestern versprochen hat? Man muß sich doch wirklich fragen, wie ernst ist denn so ein „Gerede“ noch gemeint?
Grundsatzerklärung vom 21. November 1974: Das doppelte Rom
Wenn man den tieferen Grund für den jahrelangen Zickzackkurs dieser Gemeinschaft einsehen will, muß man sich eingehender mit den theoretischen Grundlagen beschäftigen. Nur so findet man nämlich eine gültige Antwort. Was sind also die theoretischen Grundlagen der FSSPX?
Schauen wir auf die Anfänge dieser Gemeinschaft zurück. Der Gründer der FSSPX, Erzbischof Marcel Lefebvre, hat nach dem Konzil erkannt, daß die vom Konzil ausgelöste modernistische Revolution zur Katastrophe führt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, hat er die Priesterbruderschaft St. Pius X gegründet. Innerhalb des damals noch viel breiteren Stromes der sog. Tradition übernahm Mgr. Lefebvre in den 70er Jahren mehr und mehr eine Führungsrolle. Er (und seine maßgeblichen Ratgeber) manövrierte die FSSPX in jene Mittelstellung, die wir oben schon beschrieben haben. In seiner oft zitierten Grundsatzerklärung vom 21. November 1974 schreibt er:
„Wir hängen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele am katholischen Rom, der Hüterin des katholischen Glaubens und der für die Erhaltung dieses Glaubens notwendigen Traditionen, am Ewigen Rom, der Lehrerin der Weisheit und Wahrheit.
Wir lehnen es hingegen ab, und haben es immer abgelehnt, dem Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenz zu folgen, die klar im Zweiten Vatikanischen Konzil und nach dem Konzil in allen Reformen, die daraus hervorgingen, zum Durchbruch kam. Alle diese Reformen haben in der Tat dazu beigetragen und wirken weiter an der Zerstörung der Kirche, dem Ruin des Priestertums, an der Vernichtung des heiligen Meßopfers und der Sakramente, am Erlöschen des religiösen Lebens, am naturalistischen und teilhardistischen Unterricht an den Universitäten und Priesterseminaren und in der Katechese, einem Unterricht, der aus dem Liberalismus und dem Protestantismus hervorgegangen ist und schon etliche Male vom Lehramt der Kirche feierlich verurteilt worden ist.“
Nach Mgr. Lefebvre gibt es offensichtlich zwei „Rom“: Ein katholisches Rom, Hüterin des Glaubens, Lehrerin der Weisheit und Wahrheit, und ein Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenzen. Dem ersten Rom soll man folgen, das zweite dagegen ablehnen, weil es an der Zerstörung der Kirche, dem Ruin des Priestertums, an der Vernichtung des heiligen Meßopfers und der Sakramente usw. arbeitet.
Die Schwierigkeit dieser „Erklärung“ ist, daß sie das eigentliche, das der Unterscheidung zugrundeliegende Problem nicht klärt. Diesem doppelten Rom steht nämlich nach Ansicht Lefebvres ein und derselbe „Papst“ vor, das doppelte „Rom“ hat ein einziges Oberhaupt. Dieses Oberhaupt ist somit einmal Hüter des Glaubens und Lehrer der Weisheit und Wahrheit – und zugleich derjenige, der die Kirche, das Priestertum, das Meßopfer und alle Sakramente zerstört. Zugleich in einer Person vereinigen sich nach Mgr. Lefebvre die Kirche und die Gegenkirche.
Wenn man Mgr. Lefebvre darauf angesprochen und gefragt hat, wie das denn gehen solle, dann hat er gewöhnlich geantwortet, der „Papst“ sei ein Liberaler und ein Liberaler hätte nun einmal zwei Gesichter. Das ist zwar richtig, ein Liberaler hat zwei Gesichter, aber er ist niemals katholisch. Er hat zwei Gesichter, weil er das katholische Denksystem mit dem modernistischen vertauscht hat und es deswegen für ihn keine verbindliche Wahrheit mehr gibt. Aus diesem Grund kann er situationsbezogen einmal so und einmal so reden. Ein Liberaler, d.i. im kirchlichen Bereich ein Modernist, ist und bleibt immer flexibel, weil er niemals durch eine Wahrheit gebunden ist (außer der Wahrheit, daß es keine erkennbare Wahrheit gibt).
Wir müssen das beachten: Der Liberale hat sich vollkommen vom katholischen Denksystem gelöst. Er hat die Erkenntnisprinzipien grundlegend verändert und die katholischen Koordinaten mit unkatholischen vertauscht. Wenn er auch ab und zu etwas „Katholisches“ sagt, meint er dies gar nicht mehr im katholischen Sinne. Seine Ausführungen klingen nur noch katholisch, ohne es wirklich zu sein. Schon Pius X. weist auf dieses Phänomen in seiner Enzyklika gegen den Modernismus hin. Die Modernisten können ganz katholisch klingende Texte schreiben, einige Seiten später schreiben sie dann genau das Gegenteil. Der Papst nennt auch den Grund für dieses Phänomen: Es kommt einfach darauf an, in welcher Rolle der Modernist sich gerade befindet, schreibt er als gläubiger Christ, als Historiker, als Naturwissenschaftler, usw. Jeder hat seine eigene, für ihn legitime Sicht der Dinge, die sich durchaus auch widersprechen können. Dabei ist jedoch auf eines besonders zu achten: „Während sie auf tausend Weisen ihren frevlerischen Plan verfolgen, ist nichts verfänglicher, nichts perfider als ihre Taktik: sie verschmelzen in sich den Rationalisten mit dem Katholiken, und dies mit so ausgesuchter Geschicklichkeit, daß sie die ungenügend vorgewarnten Gemüter mit Leichtigkeit hintergehen“. Pius X. sagt hier wohlgemerkt „verschmelzen“, nicht nebeneinanderstellen! Der Modernist verschmilzt alle Bereiche des Glaubens mit seinem rationalistischen System, womit er den übernatürlichen Glauben von der Wurzel her zerstört. Vom katholischen Glauben bleiben nur noch Worthülsen übrig,womit sie die ungenügend vorgewarnten Gemüter mit Leichtigkeit hintergehen. Wie soll aber nun ein liberaler Papst mit einem solch rationalistischen antichristlichen Denken dem ewigen Rom vorstehen können und Hüter des katholischen Glaubens, Lehrer der Weisheit und Wahrheit sein? Wie soll er im Rahmen seiner lehramtlichen Tätigkeit katholische Entscheidungen treffen und entsprechende katholische Antworten auf die Fragen der Zeit geben können? Das scheint doch unmöglich zu sein, also muß an dieser Erklärung irgendetwas falsch sein!
Der schizophrene Papst
Wenn man sich eingehender mit den Texten Mgr. Lefebvres beschäftigt, erkennt man allmählich, daß die Konstruktion Mgr. Lefebvres in seiner Grundsatzerklärung gar nicht die eines liberalen „Papstes“ ist, sondern eine ganz andere.
Die Unterscheidung Mgr. Lefebvres zwischen dem ewigen Rom und dem Rom der neomodernistischen und neoprotestantischen Tendenz unter der Führung eines einzigen „Papstes“ ist viel eher eine oberflächige, rein phänomenologische Beschreibung dessen, was man als Katholik im Jahre 1974 erlebt hat, als eine theologische Aufarbeitung. Wobei man sich durchaus auch damals schon die Frage stellen konnte und eigentlich auch mußte, ob das „ewige Rom“ neben dem „modernistischen Rom“ nicht schon viel eher eine Fiktion war als eine Wirklichkeit? Denn wo war denn damals das ewige Rom konkret? Das ewige Rom mit Paul VI. an der Spitze? Dieser Paul VI., der die moderne Religionsfreiheit zur Lehre der Konzilskirche erklärt, die Neue Messe der ganzen Weltkirche mit brachialer Gewalt aufoktroyiert hat und alle übrigen Sakramente auf dem Schreibtisch neu erfinden ließ – dieser Paul VI. soll katholisch sein und als Papst dem ewigen Rom vorstehen und zugleich ein Modernist, der dem modernistischen Rom präsidiert und die wahre Kirche zerstört? Entgleitet damit das „ewige Rom“ nicht ganz und gar in die Vergangenheit? Das aber bedeutet, daß es für uns nicht mehr direkt erreichbar ist, sondern nur noch indirekt, was weitreichendste Folgen für unseren katholischen Glauben hat.
Man muß sich nur etwas eingehender in die Materie hineindenken, um zu erkennen, daß die Erklärung vom liberalen Papst die so beschriebene Wirklichkeit letztlich gar nicht trifft. Es gibt nur ein einziges „Phänomen“, mit dem man diese Konstruktion Lefebvres erklären kann: Schizophrenie. Schizophrenie ist Bewußtseinsspaltung. In einem einzigen Menschen finden sich zwei ganz unterschiedliche, sich völlig widersprechende Persönlichkeiten. Wer so etwas schon einmal erlebt hat, der weiß, man kann es kaum glauben, wie ein einziger Mensch sich so widersprüchlich verhalten kann. Ein schizophrener Mensch ist eine in sich zerbrochene, unberechenbare, sich ständig widersprechende Persönlichkeit.
Ein „Papst“, der wahrer Papst sein soll, also Stellvertreter Jesu Christi, Wahrer und Schützer der Kirche und zugleich ihr Zerstörer, ja der Antichrist, das kann nur eine schizophrene Persönlichkeit sein. Schizophrenie ist aber eine Geisteskrankheit, und Geisteskrankheit ist einer der Gründe, weswegen ein Papst sein Amt verliert, denn ein geistig kranker Mann kann unmöglich die Verantwortung für die Kirche übernehmen. Würde ein Geisteskranker die Kirche leiten, so würde das unvorstellbare Verwirrungen stiften. Das sieht sicher jeder unmittelbar ein. Wohingegen erstaunlicher Weise kaum jemand einsieht, wie auch die Annahme, das ewige Rom sei mit dem modernistischen Rom unter der Führung eines einzigen Papstes eins, eine große Verwirrung zu Folge haben muß. Das hängt wohl damit zusammen, daß heutzutage die wenigsten „Katholiken“ überhaupt noch wissen, was der Papst eigentlich ist und immer wesentlich sein muß! Schon allein die Annahme, ein Papst könne in solch schizophrener Weise zwei sich vollkommen widersprechenden Gemeinschaften vorstehen, verändert die Theologie des Papsttums grundlegend.
Daß unsere Interpretation des Sachverhalts auch wirklich stimmt, wollen wir noch anhand einiger Gedanken eines Schülers von Mgr. Lefebvre, Abbé Bonneterre, erhärten. In seiner Predigt zum Fronleichnamsfest 1987 paraphrasiert er die Ausführungen Mgr. Lefebvres folgendermaßen:
„Im Modernisten sind zwei Menschen, sagt Mgr. Lefebvre, einer, der sich katholisch nennt und einer, der sich modern nennt. Es gibt immer zwei Gesichter, zwei Gedanken wie zwei Seelen. …
Paul VI. war ein Mensch mit doppeltem Gesicht und doppelten Gedanken. Was Johannes Paul II. anbetrifft, so ist das ebenso: manchmal ist das, was er sagt oder macht, nicht schlecht; manchmal ist es das Gegenteil, es ist ganz modernistisch (Fideliter Nr. 57, S. 16). Als Modernisten verurteilen die Päpste Mgr. Lefebvre, - als Katholiken ‚können sie ihm nur zustimmen.“
Das von uns Erarbeitete bestätigt der Abbé voll und ganz: Im Modernisten sind zwei Menschen – also nicht nur ein Mensch mit einer bestimmten Lehre, einer bestimmten geistigen Haltung, einem bestimmten Gedankensystem, sondern zwei Menschen mit zwei Gesichtern, zwei Gedanken, ja sogar zwei Seelen – Schizophrenie nennt man einen derartigen krankhaften geistigen Zustand in der Fachsprache der Psychologie. Dieser schizophrene Papst, Paul VI. aber auch Johannes Paul II., kann Mgr. Lefebvre zugleich verurteilen und zustimmen, was es im Leben sonst weit und breit nicht gibt.
Aber es kommt noch besser, der Pater erklärt weiter:
„Ich glaube, daß diese Zweideutigkeit, die Ambivalenz der Beziehungen zwischen den Konzilspäpsten und Mgr. Lefebvre in diesem Drama seinen Grund hat. Vom Modernismus durchdrungen, kann der Papst nicht seine Zustimmung geben, aber die katholische Seite seines Bewußtseins kann nicht nein sagen.
Mgr. Lefebvre kann legitimerweise die Zustimmung des Papstes voraussetzen. Jacques Ploncard d'Assac hat von der ‚besetzten Kirche’ gesprochen, es sei uns gestattet, vom ‚besetzten Papst’ zu sprechen. Für seine Befreiung zu beten, gegen seinen modernistischen Willen zu handeln, seinem katholischen Willen untergeben zu sein: das ist der ganze klarsehende Gehorsam, den Mgr. Lefebvre dem Papst entgegenbringt, und das ist zweifellos der größte Dienst, den er der Kirche und dem Papst erweisen kann.“
Kann man es noch deutlicher sagen – bzw. noch verrückter formulieren: „Vom Modernismus durchdrungen, kann der Papst nicht seine Zustimmung geben, aber die katholische Seite seines Bewußtseins kann nicht nein sagen“ – wenn das keine Bewußtseinsspaltung ist! Aber nicht allein ein doppeltes Bewußtsein, auch noch einen doppelten Willen gesteht der Pater der FSSPX seinem „Papst“ zu. Ja, man kann sogar von einem „besetzten Papst“ sprechen, also von einem Papst, der vom Teufel besessen ist. Dieses Kuriosum, das Abbé Bonneterre hier beschreibt, ist der ausgereifte „Papst“ des doppelten Roms. Dieser „Papst“ hat einen ganz großen Vorteil gegenüber einem wirklichen Papst, man braucht ihn niemals ernst zu nehmen und man kann ihm – genauer gesagt: der katholischen Seite seines Bewußtseins – all das unterjubeln, was man nur will. Dieser „Papst“ ist selbst dann noch für uns, wenn er uns als Modernist verurteilt, suspendiert, exkommuniziert, usw. So wird der aktuelle Ungehorsam – etwa Bischofsweihen gegen den Willen des Papstes – wunderbar verwandelt und es wird daraus „der ganz klarsehende Gehorsam, den Mgr. Lefebvre dem Papst entgegenbringt, und das ist zweifellos der größte Dienst, den er der Kirche und dem Papst erweisen kann“. Wer könnte daran noch zweifeln – oder ist da etwa etwas ganz schön durcheinander gekommen?
Die Schlußfolgerung des Abbés sieht schließlich so aus:
„Der modernistische Papst spricht seine Verurteilungen aus, während das katholische Element in ihm nicht anders kann, als dem unermüdlichen Bischof-Missionar zuzustimmen. Dieser weiß von Anfang an, daß der Hl. Petrus ihm schließlich recht geben würde.“
Um Sie, verehrte Leser, nach diesen recht abenteuerlichen, verwirrenden und verirrenden Gedanken des Paters aus der FSSPX wieder auf den Boden der katholischen Theologie zurückzuholen, möchte ich kurz zwei echte Päpste zu Wort kommen lassen, bei denen wir uns keine Gedanken machen müssen, welche Seite ihres Bewußtseins gerade spricht:
„Desgleichen legt eine wenig aufrichtige Unterwerfung an den Tag, wer einen Gegensatz zwischen einem Papst und einem anderen zu konstruieren sucht. Jene, die von zwei unterschiedlichen Befehlen den gegenwärtigen verweigern, um sich an den vergangenen zu halten, liefern keinen Beweis ihres Gehorsams gegenüber der Autorität, die das Recht und die Pflicht hat, sie zu leiten; in gewisser Weise gleichen sie jenen, die angesichts ihrer Verurteilung an ein künftiges Konzil oder einen besser unterrichteten Papst appellieren möchten.“ (Leo XIII. in "Epistula tua" vom 17. Juni 1885)
„Es geht tatsächlich darum, ehrwürdige Brüder und geliebte Kinder, dem apostolischen Sitz den Gehorsam entweder zu erweisen oder zu verweigern; es geht darum, seine oberste Autorität selbst über eure Kirchen anzuerkennen, und zwar nicht nur hinsichtlich des Glaubens, sondern auch in bezug auf die Disziplin: wer diese (Autorität) leugnet, ist ein Häretiker; wer sie zwar anerkennt, sich aber hartnäckig weigert, ihr zu gehorchen, verdient die Exkommunikation.“ (Pius IX., Enzyklika "Quae in patriarchatu", 1. September 1876)
Der wahre Papst ist und muß auch wesensnotwendig die nächste Norm meines Glaubens sein, weshalb ich ihm auch in allem, was den Glauben und die Sitten betrifft, Gehorsam schulde. Wer dem Papst diesen Gehorsam verweigert, ist ein Häretiker, wer die Autorität zwar (theoretisch) anerkennt, sich aber in der Praxis hartnäckig weigert, ihr zu gehorchen, verdient die Exkommunikation. Es ist durchaus nicht möglich, zwischen dem derzeitig regierenden Papst und einem anderen (also früheren) einen Gegensatz zu konstruieren. Mit anderen Worten: man kann nicht sagen, ich gehorche dem ewigen Rom (dem Papst von gestern) und widerstehe dem derzeitigen Rom (dem Papst von heute). Warum nicht? Damit löse ich letztlich jegliche Autorität des Papstes auf. Wirklich, wenn man die Gedankenspielereien des Pater Bonneterres ernst nimmt, was bleibt dann noch von der Autorität des Papstes und dem kirchlichen Lehramt übrig? Nichts! Warum nichts? Ein schizophrener, also ein in sich widersprüchlicher „Papst“ hebt sich selbst auf! Seine Entscheidungen sind sinnlos, wertlos, nichtig, weil sie niemals in sich und für sich bindend sein können. Sie verweisen notwendiger Weise immer auf ein weiteres Urteil, nämlich das Urteil, welche Seite seines Bewußtseins gerade tätig ist. Das letzte, entscheidende, bindende, die Wahrheit verbürgende Urteil fällt somit gar nicht mehr der „Papst“, sondern immer ich selbst! Mit einem schizophrenen Papst hört das Lehramt der Kirche de facto einfach auf zu existieren, was dem Herrn Pater aus der FSSPX seltsamer Weise (?) in keiner Weise mehr ins Bewußtsein kommt. Womöglich hat er sich von der Geisteskrankheit seines Papstes ein wenig anstecken lassen?
Anders ausgedrückt, um wieder zur FSSPX zurückzukehren: Es zählt jetzt, wenn man ehrlich ist und das System zu Ende denkt, nicht mehr das, was in Rom gesagt wird, wie in Rom über dieses oder jenes geurteilt wird – sondern in Ecône, denn Mgr. Lefebvre „weiß von Anfang an, daß der Hl. Petrus ihm schließlich recht geben würde“, was der schizophrene Papst ganz sicher nicht weiß.
Ziehen wir nun die Konsequenz aus dem Erarbeiteten: Ähnlich wie die Protestanten eine reine Geistkirche konstruierten, konstruiert die FSSPX einen rein geistigen Papst. In der Philosophie spricht man von einem „ens rationis“ d.h. einem reinen Gedankending, das nur im Kopf des Denkenden existiert, aber keine reale Existenz außerhalb unseres Denkens besitzt. Der „Papst“ der FSSPX ist ein solches „ens rationis“. Er hat keinerlei reale Existenz mehr, denn, was dieser konkrete Papst wirklich sagt und tut und fordert, hat keinerlei Bedeutung. Wichtig ist immer nur das, was ich denke, daß er denken würde, wenn er katholisch wäre. Der Papst der FSSPX existiert wirklich nur in den Köpfen ihrer Oberen und ihrer Priester. Sie wissen immer besser als der reale Papst, was er eigentlich will und sagt und fordert. Ja, sie wissen zuweilen sogar ganz sicher, daß er in Wirklichkeit genau das Gegenteil von dem will, was er ihnen wirklich direkt ins Gesicht gesagt und von ihnen gefordert hat – wie etwa bei der Bischofweihe 1988. Der „Papst“ als reines Gedankending hat freilich einen ganz großen Vorteil, er bleibt letztlich immer stumm, weshalb er sich natürlich nicht gegen derartig absurde und ungeheuerliche Unterstellungen wehren kann.
Dr. J.B. Heinrich schreibt in seiner „Dogmatischen Theologie“ Bd. 2 von 1876:
„In diesem Sinn kann und muß daher allerdings die höchste Lehrautorität und die damit verbundene lehramtliche Unfehlbarkeit als etwas dem Papst persönlich Eigenes, als ein persönlicher Vorzug, ein persönliches Recht, ein persönliches Privileg des Papstes (…) bezeichnet werden, nämlich als etwas, was dem Papste allein, nicht einem anderen zusteht. Es hat also in dem allgemein bekannten und anerkannten Sinne der katholischen Autoren dieses Wort nicht den Sinn, daß Lehrgewalt und Unfehlbarkeit dem Papste als Privatperson eigen sei, sondern in seinem Amte, seiner amtlichen Eigenschaft, seiner amtlichen Persönlichkeit. Das gilt aber nicht nur vom Papste, sondern von einem jeden Träger eines Amtes, insbesondere vom Bischof; auch alle Gewalt und alle Gnade, welche mit dem bischöflichen Amte als solchem verknüpft ist, inhäriert, wie das Amt selbst, der Person des Bischofs, nicht irgend einem nichtigen Gedankending oder einem unter diesem Namen versteckten anderen Subjekte.“ (S. 213) (Hervorhebung von uns)
Das Lehramt von Ecône
Das von uns Geschilderte ist leider keine Karikatur der Position der FSSPX. Die Folgen dieser Haltung sind vielmehr bei den Gläubigen in allen Meßzentren nachweisbar. Genauso wie sich Mgr. Lefebvre angesichts der modernistischen Wirrungen gegen Rom und über den vermeintlich liberalen „Papst“ stellen mußte, um noch katholisch bleiben zu können, genauso muß sich auch heute noch jeder Katholik gegen das modernistische Rom und über den vermeintlich liberalen „Papst“ stellen. Er muß immer selber entscheiden: jetzt spricht der Papst als Modernist – jetzt spricht er als Katholik. Man sieht schließlich den Texten, die aus dem Vatikan kommen, nicht an, welche Seite des Bewußtseins des Papstes gerade für sie verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Er, der Gläubige (!), ersetzt das Lehramt – oder noch etwas treffender formuliert: Der Gläubige spielt Lehramt, denn wahres Lehramt kann er niemals sein, er bleibt immer nur eine Karikatur desselben. Doch die Gläubigen der FSSPX haben sich an dieses Spiel inzwischen so gut gewöhnt, daß sie es in keiner Weise mehr durchschauen. Ganz selbstverständlich halten sie ihrem „Papst“, also dem lebendigen Lehramt, die Texte des toten Lehramtes entgegen – oder etwas theologischer ausgedrückt: Vollkommen unreflektiert stellen sie die entfernte Norm des Glaubens über die nächste Norm des Glaubens, womit ihr „Papst“ in Rom nichts anderes mehr ist als eine Marionette, die an den Fäden ihrer eigenen Gedanken, Einbildungen und Phantasien hängt.
Leider hat Mgr. Lefebvre seine Fehlerklärung niemals durchschaut und deswegen auch niemals korrigiert. Ja, durch das Vorbild seines eigenen Handelns hat er all jenen zugespielt, die so weit gingen zu behaupten, das Lehramt befinde sich nun nicht mehr in Rom, sondern in Ecône.
Auch diese Behauptung, das Lehramt sei von Rom auf Ecône übergegangen, ist durchaus keine böswillige Unterstellung. Bischof Tissier de Mallerais etwa erklärte in einem Artikel zur Rechtfertigung der Bischofsweihen mit der Überschrift „Ecclesia Dei adflicta” zum Motu proprio Johannes Pauls II. gleichen Titels auf die Frage „Was bleibt vom Lehramt der Kirche?”: „Es ist Glaubenslehre, daß der Herr seine Kirche mit einem lebendigen und fortdauernden Lehramt ausgestattet hat, d.h. mit der Stimme des Papstes und der Bischöfe, die zu jeder Zeit und in der Gegenwart sich zum Echo der göttlichen Offenbarung machen, zur Übertragungsinstanz für die Tradition. Nun, eben dieses Lehramt finden wir - wenigstens, was die von den Konzilsanhängern geleugneten Wahrheiten betrifft - auf sichere Weise in Msgr. Lefebvre. Er ist das wahre Echo der Tradition, der treue Zeuge, der gute Hirt, den die einfachen Schäflein inmitten der in Schafsfellen gehüllten Wölfe erkennen konnten. Ja, die Kirche hat ein lebendiges und fortdauerndes Lehramt, und Msgr. Lefebvre ist sein Retter. Die Indefektibilität der Kirche, das ist der unbeugsame Erzbischof, der ihr strahlendster Held ist, wie einst Athanasius, der von Papst Liberius, dem ersten ökumenistischen Papst exkommuniziert wurde. Der Prälat von Ecône ist derzeit die festeste Stütze des verdunkelten, verfinsterten Lehramts des Papstes und seiner Brüder im Bischofsamt...” (in: Fideliter n°72 Nov.-Dez. 1989, S. 4-11, hier: S. 10).
Derselbe Bischof sagte ein Jahr später, in einem Vortrag über Das II. Vatikanische Konzil und die wahre Tradition, gehalten am 16. Mai 1990 im Priorat Basel, erneut: „Das Wesen des Lehramts ist es, Mund der Tradition zu sein”, und spekulierte dann weiter, dieses Lehramt befinde sich dementsprechend nunmehr nicht mehr im modernistischen Rom, sondern in Ecône! Er scheute sich nicht, wörtlich zu erklären: „Der Leuchtturm der Wahrheit, der Rom ist, erfährt jetzt eine geheimnisvolle Verfinsterung. Wo kann man also das lebendige, immer lebendige und unvergängliche Lehramt der Kirche finden, - wo? - Ihr Glaube antwortet einfach: in Ecône. - So ist es. - Erzbischof Lefebvre ist jetzt die beste Stütze, der festeste Beschützer des Lehramtes der Kirche und des Papstes, er ist die authentische Stimme der Tradition” (in einem Vortrag im Priorat Basel am 16. 5.1990 über Das II. Vatikanische Konzil und die wahre Tradition, nach einem privaten Mitschnitt des Vortrags auf Audio-Cassette).
Auch P. Schmidberger formuliert fast hymnisch den gleichen Sachverhalt, nur mit etwas anderen Worten: „Die Bruderschaft erachtet es darüber hinaus für äußerst wichtig, die Tatsache ins Licht zu rücken, daß Erzbischof Lefebvre sich nicht nur als demütiger Kirchenfürst und liebevoller Hirte bewährt hat, sondern auch als fachkundiger Theologe, ja sogar auch auf profanem Gebiet. Er hatte sich einen Grad an theoretischem und praktischem Wissen, an pastoralen und pädagogischen Fähigkeiten erworben, an den seit Pius XII. kaum einer seiner Zeitgenossen heranreichte. Auch in dieser Hinsicht sind die Mitglieder der Bruderschaft privilegierte Zeugen, und dies nicht nur als seine Söhne, sondern auch als seine Schüler. Ohne einem späteren Urteil der Kirche vorgreifen zu wollen, dürfen wir in ihm einen Kirchenlehrer für unsere Zeit sehen, weil rechtens nicht bestritten werden kann, daß in unserer Zeit, was die 'Rechtgläubigkeit seiner Lehre', die 'Heiligkeit seines Lebenswandels' und die 'hervorragende Gelehrsamkeit' betrifft, niemand an ihn heranreichte, sieht man vielleicht einmal von Bischof de Castro Mayer ab“ (In der Einführung zu M. Lefebvre, Damit die Kirche fortbestehe, S. E. Erzbischof Marcel Lefebvre der Verteidiger des Glaubens, der Kirche und des Papsttums, Dokumente, Predigten und Richtlinien, Eine historiographische Dokumentation. Herausgeber: Priesterbruderschaft St. Pius X. Stuttgart 1992, S. 23).
Abbé Simoulin schieb in seinem monatlichen Informationsbrief Roma felix (Jahrg. 1, n.11, November 1999, S. 1f): „Wenn wir das begriffen haben (was Mgr. Lefebvre in seiner Erklärung vom 21. November 1974 gesagt hat), denke ich, dann müßten wir uns bemühen, allem gegenüber sehr treu und gelehrig zu sein, was Mgr. Lefebvre uns im Namen der Kirche übergeben hat: den Glauben ganz sicher, aber auch das moralische Gesetz, die Disziplin, die Liturgie, ebenso wie viele Dinge geringerer Bedeutung, die aber jeder von uns aus kindlicher Pietät bewahren müßte sowie auch deswegen, weil die Untreue in den kleinen Dingen oft der Anfang schlimmerer Verfehlungen ist. Wir können nicht wählen, was uns gefällt, und beiseite schieben, was uns nicht gefällt. Man muß alles nehmen, weil alles verbunden ist. Ich bin z.B. erstaunt, von Personen zu hören, die ihre Bewunderung für Mgr. Lefebvre ausdrücken und die gleichzeitig sagen, er habe sich in dieser oder jener Kleinigkeit, in der Moral oder in der Liturgie, getäuscht. Seltsam, denn wenn er sich wirklich bezüglich Kleinigkeiten getäuscht hat, wer kann mir dann die Gewißheit geben, daß er sich nicht auch in wichtigen Dingen getäuscht hat?“
Hier wird doch offensichtlich Mgr. Lefebvre eine (zumindest faktische) Unfehlbarkeit zugeschrieben. Und während man den offiziell anerkannten Konzilspäpsten gegenüber berechtigt ist, zu „wählen, was uns gefällt, und beiseite schieben, was uns nicht gefällt”, ist diese Haltung Lefebvre gegenüber nicht erlaubt. Er ist also an die Stelle des unfehlbaren Papstes getreten – und, wie könnte es anders sein, er ist – schwuppdiwupp – zum Superpapst geworden, der selbst in jeder Kleinigkeit unfehlbar ist.
Solchen Fabeleien ganz entgegenstehend schreibt Pater Pierre de Cloriviere S.J.: „... Selbst dann, wenn man die Kirche oder ihren obersten Hirten, dem die Unfehlbarkeit verheißen wurde, nicht um Rat fragen kann, darf man keiner wie auch immer gearteten Autorität blindes Vertrauen schenken, da es keine Autorität gibt, die nicht selbst dem Irrtum verfallen und uns mit hineinziehen könnte“ (Etudes sur la Revolution, Ed. Sainte Jeanne d'Arc, S. 132-133). Nein, niemals darf ein Katholik neben dem Lehramt der Kirche einer wie auch immer gearteten Autorität blindes Vertrauen schenken. Würde er dies tun, hätte er seinen katholischen Glauben bereits verloren, denn er hätte seinen Glauben nicht mehr von der Kirche, sondern von der Gemeinschaft, der er blind (=wie einem Lehramt) vertraut. Dementsprechend kann man sagen, all diejenigen Gläubigen, die ihren Glauben blind auf die FSSPX stützen, haben durch diesen Akt ihren katholischen Glauben schon verloren. Sie haben einen Piusbruderglauben angenommen, d.h. sie sind Mitglieder einer Sekte geworden. Es ist bezeichnend für den in der FSSPX herrschenden Ungeist, daß bei der Neuausgabe des Werks von Pater Pierre de Cloriviere S.J. in den „Éditions Fideliter“, einem Verlag der FSSPX, der von uns zitierte Satz der Zensur zum Opfer gefallen, also einfach weggelassen worden ist.
Wir müssen als wichtiges Ergebnis unserer Überlegungen festhalten: Wer der Lösung von Mgr. Lefebvre – doppeltes Rom mit schizophrenem Papst – konsequent folgen möchte, der muß sich auch darüber im Klaren sein, daß er schließlich nicht mehr dem römischen Lehramt Folge leistet, sondern seinem eigenen Lehramt oder dem ecônesischen Lehramt. Dies zeigte sich die letzten Jahre übrigens in der hartnäckigen Forderung der FSSPX nach einem theologischen Disput mit Rom, in dem man gemäß ihrem Generaloberen „umstrittene Punkte in der Lehre der Kirche“ mit dem Lehramt der Kirche diskutieren wollte. Eine solche Diskussion dürfte sicherlich in der ganzen Kirchengeschichte einmalig sein. Die Piusbrüder hatten das Glück, daß sie es mit der modernistischen Seite des Bewußtseins ihres „Papstes“ zu tun hatten, denn die katholische Seite seines Bewußtseins hätte sie aufgrund dieses Ansinnens sofort exkommuniziert. Erstaunlicher Weise (oder auch nicht) haben die „unfehlbaren“ Lehrer in der FSSPX das nicht einmal bemerkt.
Lefebvre gegen Lefebvre
Es ist durchaus nicht so, daß Mgr. Lefebvre die Schwierigkeiten bezüglich seiner eigenen Position überhaupt nicht wahrgenommen hätte. Vor allem in den heißen Kampfphasen seiner Auseinandersetzung mit dem modernistischen Rom kommt er immer wieder auf die entscheidenden Probleme zu sprechen – ohne jedoch jemals die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen!
In seiner Erklärung vom 2. August 1976 (Itinéraires n. 206, Sept.-Okt. 1976, p. 280) stellte er etwa fest: „...Denn schließlich stellt sich ein ernstes Problem dem Gewissen und dem Glauben aller Katholiken seit dem Anfang des Pontifikates Pauls VI. Wie kann ein Papst, ein wahrer Nachfolger Petri, unter dem Beistand des Hl. Geistes, der Kirchenzerstörung präsidieren, der tiefsten und umfassendsten ihrer Geschichte, in so kurzer Zeit, was keinem Häresiearchen je gelungen ist?“
Da kann man Mgr. Lefebvre nur Recht geben, das ist nun wirklich die entscheidende Frage: Kann der Nachfolger Petri, unter dem Beistand des Hl. Geistes, der Kirchenzerstörung präsidieren? Kann der Papst, der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden, zugleich der Antichrist sein, wie derselbe Erzbischof nach dem Skandal von Assisi immerhin Johannes Paul II. genannt hat?
Noch ein weiteres Beispiel in diese Richtung sei hier angeführt. Bei den Priesterweihen, die dem „heißen Sommer“ vorausgingen, hielt Mgr. Lefebvre eine Predigt, in der er sagte: „Eine Kirche, die dergleichen Irrtümer (Gewissensfreiheit etc.) vertritt, ist häretisch und schismatisch zugleich. ... Dieser konziliaren Kirche wollen wir nicht angehören ... Diese Konzilskirche ist also nicht katholisch. In dem Maße, in dem der Papst, die Bischöfe, Priester oder Gläubigen dieser neuen Kirche anhängen, trennen sie sich von der katholischen Kirche und werden schismatisch“ (Ecône, 29. Juni 1976).
Wenn man sich bemüht, die nachkonziliare Wirklichkeit nur einigermaßen nüchtern und objektiv zu beurteilen, dann kann man zweifelsohne nur eines feststellen: der Papst, die Bischöfe, die Priester und die Gläubigen hingen und hängen mit ganzem Herzen an dieser neuen Kirche, folglich trennten und trennen sie sich von der katholischen Kirche und wurden bzw. werden schismatisch. Was aber bedeutet dies für den „Papst“ und die „Bischöfe“ dieser neuen Konzilskirche und welche Konsequenzen muß man aus der allgemeinen Apostasie für die Amtsträger ziehen?
Nochmals sei es gesagt: Leider hat Mgr. Lefebvre niemals die entsprechenden, notwendigen Konsequenzen aus solchen Einsichten gezogen. Vielmehr hat er, sobald die heiße Phase der Auseinandersetzung vorüber war, jeweils wieder ganz andere, moderatere Töne angeschlagen und wenn nötig das Gegenteil gesagt. Auch hierzu einige Beispiele:
„Ich wünsche die friedliche Koexistenz der vor- und nachkonziliaren Riten. Man lasse also die Priester und die Gläubigen wählen, welcher ‚Riten-Familie’ sie angehören wollen“, schreibt er am 17. 9. 1976 in einem Brief an den Präsidenten der „Una Voce“.
„Was das Konzil anbelangt, so gibt es sicherlich Dinge, die am Konzil schwer zu akzeptieren sind, und doch wäre ich bereit, einen Satz wie den folgenden zu unterschreiben: ‚Ich akzeptiere die Dokumente des Konzils, wenn sie im Sinne der Tradition interpretiert werden.’ Ich meine, daß dies ein Satz ist, den ich eventuell akzeptieren und auch unterschreiben könnte, wenn Sie wollen“ (Vortrag in Ecône, 21. November 1978).
„Es ist zu hoffen, daß die Dinge mit Papst Johannes Paul II. ins Lot kommen werden, und ich bin durchaus zuversichtlich, mit ihm zu einer umfassenden Verständigung zu gelangen ... Wir ersuchen einfach darum, die theoretischen Probleme nicht allzu eingehend zu diskutieren und die Fragen beiseite zu lassen, die uns trennen, wie jene nach der Religionsfreiheit“ (Angers, 23. November 1980).
In der Februarnummer der Monatszeitschrift „30Giorni“ („30Tage“) lesen wir die folgende an Mgr. Lefebvre gerichtete Frage: „Können Sie sich vorstellen, daß der Papst auf dem Petersplatz auftritt und den Gläubigen verkündet, man habe nach mehr als zwanzig Jahren gemerkt, daß sich das Konzil getäuscht hat und daß man mindestens zwei Dekrete abschaffen muß, für welche die Mehrheit der Väter gestimmt hat und die vom Papst gutgeheißen worden sind?“ Lefebvres Antwort darauf: „Ach wo! In Rom wird man eine diskretere Modalität finden... Der Papst könnte kraft seines Amtes beteuern, gewisse Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils müßten besser im Licht der Tradition interpretiert werden, etwa so, es sei notwendig, nach gewissen Wendungen zu suchen, um sie dem Lehramt der vorhergehenden Päpste stärker anzugleichen.“
Man könnte die Zitate Mgr. Lefebvres sowohl für die harte also auch für die gemäßigte Sicht der Dinge beliebig vermehren, was ja zur Zeit auch von der FSSPX (gemäßigte Sicht der Dinge) und dem sog. Widerstand (harte Sicht der Dinge) fleißig getan wird, man haut sich gegenseitig sich widersprechende Zitate von Mgr. Lefebvre um die Ohren. Für den gläubigen Katholiken stellt sich anhand dieser sich vollkommen widersprechenden Textzeugnisse die verwirrende Frage: An welche der Aussagen des Leuchtturmbischofs soll man sich denn nun halten? Es wird den Katholiken wohl nichts anderes übrigbleiben, jeder muß für sich wählen, was er für richtig hält – aber daran haben wir uns ja inzwischen gewöhnt, denn mit den Verlautbarungen der „Päpste“ machen wir das schließlich schon seit mehr als vier Jahrzehnten.