Allmählich müßte jeder Katholik auf das herbstliche Bitten der hl. Liturgie eingestimmt sein. Im Grunde dürfte es uns derzeit nicht allzu schwer fallen, mit ganzem Herzen, ja großem Herzen zu bitten, denn Gründe zu bitten gibt es sicherlich für jeden von uns übergenug. Die Not dieser Zeit ist in vieler Hinsicht außergewöhnlich – und Not lehrt bekanntlich beten. All diese apokalyptische Not sollen wir zum Gebet werden lassen. Sobald wir nur ein klein wenig übernatürlich zu denken beginnen und etwa die Sorge um das ewige Heil der Seelen unserer Nächsten erwägen, kommen wir aus dem Bitten gar nicht mehr heraus, ist doch die Gefahr der ewigen Verdammnis riesengroß. Lassen wir doch unsere vielfältigen Nöten zum Gebet werden…
Man darf wohl ganz zurecht sagen, an diesem 16. Sonntag nach Pfingsten erreicht das herbstliche Bitten der Kirche einen Höhepunkt. Die Texte dieses Sonntags fließen über von außergewöhnlichen Bitten, Bitten die uns so richtig zu Herzen gehen sollen, damit wir sie uns auch ganz persönlich zueigen machen. Diese inständigen Bitten der hl. Kirche sollen ja unsere Herzensanliegen werden. Wobei wir als Katholiken immer mehr wahrnehmen sollen, wie diese Texte der hl. Liturgie unseren geistigen Horizont zu einem großen, ja weltumspannenden Bitten weiten wollen. Schauen wir also etwas genauer hin, tauchen wir als inzwischen schon passionierte Perlentaucher in die Tiefe hinab.
Zuversichtliches, beharrliches Beten tut not
Sogleich im Introitus werden wir freudig ermuntert: „Erbarm dich meiner, o Herr, ich rufe zu Dir den ganzen Tag; du bist ja gut und mild, o Herr, und an Erbarmen reich für alle, welche zu Dir rufen.“
Es ist zwar in der Tat nicht möglich, aber es wäre dennoch überaus nötig, daß wir „den ganzen Tag“ zu Gott rufen. Unablässig sollten wir den Himmel bestürmen: Barmherzigkeit, o Jesus, Barmherzigkeit! Denn unser göttlicher Herr ist ja gut und mild und daher reich für alle, welche zu IHM rufen. Und müssen wir nicht mitten in dieser außerordentlich großen Not, sobald wir nur nüchtern und ehrlich die katholische Sache ins Auge fassen, einsehen, daß da nun wirklich nur noch Gottes Hilfe retten kann? Alle menschlichen Wege sind zu Sackgassen geworden, wie die fleißig Kirche spielenden Traditionalisten zur Genüge beweisen. Mit ihren menschlichen Traditiönchen meinen sie die göttliche Tradition retten zu können! Wenn das keine Sackgasse ist! Dabei muß man leider feststellen, daß die allermeisten von ihnen keinen Rückwärtsgang haben, weshalb sie in ihrer Sackgasse immer wieder neu gegen die Wand fahren.
„Kollekte“
Das heutige Kirchengebet ist wieder so ein Meisterwerk einer kürzesten und dennoch treffendsten Formulierung: „Tua nos, quaesumus, Domine, gratia semper et praeveniat et sequatur…“ Wörtlich übersetzt heißt das: „Deine uns – wir bitten Herr – Gnade möge allezeit vorangehen und nachfolgen…“
Man hört es aus dem lateinischen Originalwortlaut heraus, das Gebet will uns geradezu einhüllen in die göttliche Gnade. Im lateinischen Text kommt dies unnachahmlich eindrücklich zum Ausdruck, wenn da zwischen „Deine“ und „Gnade“ das „uns“ steht. (Tua nos … gratia). Diese Seine Gnade muß uns alle Zeit vorangehen, daher steht das „Deine“ schon vor dem „uns“ — und sie muß uns zugleich weiter geleiten und nachhelfen. Daher ist das Wort „Gnade“ nach „uns“ gesetzt!
Mit solchen wohlüberlegten Wortstellungen möchte uns die hl. Kirche die Dringlichkeit und die große Bedeutung ihrer wahrlich alles zusammenfassenden Meßgebete zum Ausdruck bringen. Der eigentliche Name für dieses Gebet ist ja „Kollekte“ und das heißt „zusammenfassendes“ Gebet.
Das Gebet des heiligen Paulus
Dabei ist dieses Gebet, das zudem erfleht, die Gottes Gnade möge uns unablässig zu guten Werken aneifern, nur der Anfang unseres Bittens. In der heutigen Lesung findet sich ebenfalls fast nur Gebet. Ist ist richtig bezaubernd zuzuhören, wenn der heilige Paulus öfters in seinen Briefen spontan von der Belehrung zum Gebet übergeht. Da hört man es dann direkt aus seinen Worten heraus, sein Herz ist überströmend von der Liebe Christi. Alle seine apostolischen Anliegen, seine vielen Sorgen und großen Nöte drängen ihn zum Gebet, zum Lobpreis Gottes und zur Bitte um Erbarmen. Dabei gibt es wohl in all seinen Briefen keine Stelle, die so feierlich und ausdrücklich ein Bittgebet enthält, wie die unsere heute. Und so gewaltige und so klar gestellte Bitten sind wohl sonst selbst in der Heiligen Schrift selten zu finden.
Es ist doch ergreifend, angesichts der vielen Drangsale, die er um Jesu Christi willen zu erdulden hat, jammert der Völkerapostel nicht los, sondern er beugt feierlich seine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus. Das nennt man Glaubensmut, Seelenstärke. Dabei wird die Größe und Majestät des Vaters in dem unübersetzbaren Nachsatz nochmals groß und eindringlich betont: „… von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat.“
Bedenken wir es einmal in aller Stille unseres Herzens: Alles, was unter Menschen irgendwie mit „Vater“ benannt wird und damit zusammenhängt, hat von diesem großen Vater im Himmel Namen und Würde. Gleichgültig, ob wir zu einem Menschen „Vater“ sagen oder ob wir von „Vaterhaus“, Vaterland, Heimat, Familie usw. sprechen, wo immer etwas vom „Vater“ dabei ist — das alles hat seinen Namen, seine Würde, seine bezaubernde Anziehungskraft von dem einen und eigentlichen Vater im Himmel. Da können wir nur niederknien und anbeten: „Vater unser…“
An diesen unendlichen Gott-Vater richtet darum der Apostel sein Gebet und wie es „dem Reichtum Seiner Herrlichkeit“ entspricht, möge ER sich der Anliegen des Apostels annehmen und ihn erhören.
Dem Reichtum der Herrlichkeit dieses unendlichen Vaters aber entspricht, kurz gesagt, nur jene höhere „Verzauberung“ und Wandlung unseres innersten Wesens, wie sie jetzt in den Worten des Apostels zum Ausdruck kommt: „im Geiste“ (das ist ohne Zweifel im Heiligen Geiste selbst!) sollen wir erstarken am „inneren Menschen“. Dort, im Innersten unserer Seele, wirkt der Geist Gottes – uns oft unmerkbar! –, unsere Verwandlung aus irdisch gesinnten Menschen in geistgelenkte und geisterfüllte Gotteskinder! Nein, wir sind nicht mehr Kinder dieser Welt, die ihre Sorgen und Wünsche und Nöte haben, wir sind Kinder des Vaters Jesu Christi, weil nämlich der Heilige Geist selbst in unseren Herzen spricht, wie uns ebenfalls der hl. Paulus versichert: „Ihr habt doch nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, so daß ihr euch von neuem fürchten müßtet. Nein! Ihr habt den Geist der Annahme als Kind empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater.“ (Röm. 8,15)
Daher wird als zweites vom hl. Paulus erbeten, daß „Christus wohne durch den Glauben in unseren Herzen!“ Das ist die eigentliche, nie mehr aufhörende Christusgemeinschaft und -freundschaft im Herzen, die auch — sehnsuchtsvoll! — aufklingt im hl. Evangelium beim Worte des Herrn: „Freund, rücke höher herauf“, womit doch „näher her zu Mir“ gemeint ist! Wie gerne spricht der Herr zur richtig in Demut flehenden Seele dieses einladende Freundeswort: „Freund, komm doch näher her zu Mir!“
Gottesfreundschaft
Darum ist auch das dritte Anliegen des Apostels die Liebe, denn allein die Liebe wirkt Gottesfreundschaft und Gottesnähe. Dabei wird nicht lange gesagt, ob Liebe zu Gott oder Liebe zum Nächsten gemeint ist. Es ist die Liebe schlechthin, die in Gott — aus Gnade! — wurzelnd alles umfängt, deren Ziel der Apostel aber in unvergänglichen, freilich auch geheimnisvollen Worten umschreibt. In dieser Liebe sollen wir festgewurzelt und gegründet sein, damit wir „mit allen Heiligen zusammen“ — also in der ganzen großen Gemeinschaft der Heiligen, denn nur mit deren aller Hilfe geht das! — „begreifen die Breite und Länge, die Höhe und Tiefe und auch die Liebe Christi verstehen, die alles Erkennen übersteigt.“ Aufgrund dieser Worte wurde diese Stelle aus dem Epheserbrief zur Lesung des Herz-Jesu-Festes erwählt. In Herzen Jesu, das die Fülle der Gottheit enthält, finden wir diese Breite und Länge, die Höhe und Tiefe, die wir immer mehr begreifen sollen. Ist das nicht überaus kühn vom hl. Paulus gesagt, wir sollen die ganze Unendlichkeit Gottes „fassen“ (lat. „comprehendere“), sollen mit allem Mut zugreifen, um diese unendliche Fülle auszukosten, ganz von ihr voll werden, ja wir sollen „berauscht“ werden von Gott – wie etwa der hl. Franziskus, dessen Wundmale wir heute gedenken! Da ist es schon wert, einen kurzen Blick auf die „Fioretti oder Blümlein des hl. Franziskus“ zu werfen.
Aus dem Leben des hl. Franziskus von Assisi
Einige Tage nach seiner Rückkehr nach Assisi wählten ihn eines Abends seine Gefährten zum Anführer, damit er nach seinem Gutdünken die Kosten trage. Nach dem Mahle gingen sie ins Freie; die Gefährten schritten allesamt vor ihm her, und so zogen sie singend durch die Stadt. Er selbst trug als Anführer in der Hand einen Stab und ging ein wenig hinter ihnen, nicht singend, sondern tiefer nachdenkend.
Und siehe, plötzlich wurde er vom Herrn heimgesucht und sein Herz wurde mit solchem Glück erfüllt, dass er nicht sprechen noch sich von der Stelle bewegen konnte und er nichts anderes zu empfinden noch zu hören vermochte als jenes Glück.
So sehr hatte es ihm alle körperliche Empfindung geraubt, dass, wie er selbst später bekannte, er sich nicht von der Stelle hätte bewegen können, selbst wenn man ihn in Stücke gehauen hätte.
Als aber seine Gefährten sich umblickten und sahen, dass er sich so weit von ihnen entfernt hatte, kehrten sie zu ihm zurück und hielten ihn, der gleichsam schon in einen anderen Menschen verwandelt war, erschrocken fest.
Einer fragte ihn: An was hast du gedacht, dass du nicht nachgekommen bist? Vielleicht hast du gedacht, eine Frau zu nehmen?
Lebhaft antwortete jener: Recht habt ihr, denn ich habe daran gedacht, mir eine Braut zu nehmen, die adeliger, reicher und schöner ist, als ihr je eine gesehen habt. (3 Gef. 7)
Kühnes Gebet
So berauschend kann also die Liebe Christi sein, wenn sie eine Seele ganz ergreift und in ihren wunderbaren göttlichen Bann zieht: So sehr hatte es ihm alle körperliche Empfindung geraubt, dass, wie er selbst später bekannte, er sich nicht von der Stelle hätte bewegen können, selbst wenn man ihn in Stücke gehauen hätte.
Genauso erging es dem hl. Paulus angesichts der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes: „Ihm aber, der vermöge der in uns wirkenden Kraft über all das hinaus noch weit mehr zu tun vermag, als wir erflehen und erdenken können, Ihm sei die Ehre in der Kirche und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Das ist doch wunderschön, berauschend und über alle Maßen erhebend! Alles Bitten mündet schließlich ein in den Lobpreis Gottes, dem Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Erinnern wir uns an das Kirchengebet des 11. Sonntags nach Pfingsten, wo ebenfalls das äußerste gewagt wird, was ein Mensch in einem Gebet wagen kann: „Allmächtiger ewiger Gott, Du gibst im Übermaße Deiner Liebe den Flehenden mehr, als sei verdienen, und mehr, als sie erbitten…“
Überaus groß ist heute die „Gebetsleidenschaft“ der hl. Kirche, wenn man so sagen darf, daß sie uns über alle Maßen Vertrauen einflößen möchte in die Güte unseres himmlischen Vaters.
Der Herr erhört und erhöht den demütigen Beter
Schauen wir hierzu noch einmal auf das hl. Evangelium. Auch dieses gibt uns Mut zu solchem Beten und erhöht kühn unser Vertrauen. Denn der wassersüchtige Mensch in seiner Schwerfälligkeit — das sind wir selbst in unserem Gebundensein an die „Elemente“, an Erde, Wasser, Luft und Feuer, mit unserem ganzen erbsündlichen Ballast! Wie schwerfällig sind wir geworden, wenn es um die Dinge Gottes und unseres ewigen Heils geht! Müssen wir da nicht verzagen, wenn wir uns anschauen?
ER aber, der große Freund der leidenden Menschen, ist an diesem Sonntag da, um uns kurzerhand – wie diesen Wassersüchtigen! –, anzurühren, zu heilen und frei zu entlassen. Wenn ER sodann gewagt diese Frage an Seine Gegner stellt, wer von ihnen etwa wohl ein Stück Vieh, das in eine Grube gefallen wäre, nicht allsogleich herauszöge am Tage des Sabbat, dann hat ER damit uns den Wagemut eines felsenfesten Vertrauens einflößen wollen: ER selbst werde doch um Himmels willen nicht weniger gut handeln, als ER es von Seinen Feinden annimmt!
Also wird ER uns ganz sicher nicht in der Grube verkümmern lassen. Nein, einst wird jener Sabbat kommen, und der heutige Sonntag ist wirkungsvollste Vorausverkündigung dieses Tages, wo ER uns aus aller Tiefe herauszieht, aus jedem Graben und jeder Grube! Letztlich sind die Graben und Gruben unseres Lebens die Sünden. Die läßlichen sind die Schlaglöcher am Weg, die Todsünden, die Fallgruben. Jesus aber zieht uns aus jeder Grube heraus, ausdrücklich im hl. Sakrament der Beichte. Damit gewinnen unsere Gebete schließlich die letzte Zuversicht und die letzte Zielsicherheit!
Dennoch dürfen wir nicht vergessen, das Ganze hat eine Voraussetzung, woran uns das hl. Evangelium ebenfalls erinnert. Die Voraussetzung ist die Tugend der Demut, denn nur „wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“. Nur wer ehrlich einbekennt und zugibt, wie tief er „in der Grube sitzt“, der darf auch zuversichtlich darauf bauen, daß einmal das überaus beglückende Wort an sein Ohr tönt: „Freund, rücke höher hinauf, näher her zu Mir!“
Und sobald wir dieses Wort hören und vielleicht sogar Seine allmächtige Hand spüren, die uns sanft und doch ganz fest faßt, dann wissen wir: Jetzt ist alles gut! Dieses unerschütterliche Gottvertrauen aber ist die Freiheit der Kinder Gottes, welche uns allein durch die Gnade Gottes ermöglicht wird. Was diese Freiheit der Kinder Gottes bedeutet, wollen wir nochmals am Beispiel des hl. Franziskus erwägen:
„Als er so dahinzog und gerade durch einen Wald hindurch dem Herrn auf französisch Loblieder sang, fielen plötzlich Räuber über ihn her. Wie sie ihn mordgierig fragten, wer er sei, antwortete der Mann Gottes zuversichtlich und rief mit voller Stimme: «Der Herold des großen Königs bin ich! Was geht das euch an?» Doch diese schlugen ihn, warfen ihn dann in eine Grube voll tiefen Schnees, wobei sie riefen: «Da lieg, du bäuerischer Herold Gottes!» Er aber wälzte sich hin und her, schüttelte den Schnee ab und sprang, als die Räuber abzogen, aus der Grube heraus. Dann begann er erheitert in großer Freude mit lauter Stimme dem Schöpfer aller Dinge Loblieder in den Wald hineinzusingen (1 Cel. 16).“